Wie die Experten aus Wirtschaft und Bau die aktuelle Lage einschätzen, warum sie einen extremen Druck auf den Wohnungsmarkt erwarten und welche Erfordernisse sie daraus ableiten
Mario Hilgenfeld nimmt kein Blatt vor den Mund, auch wenn das, was er zu sagen hat, bei Politikern nicht gern vernommen wird. Der Leiter Wohnungswirtschaft/-Politik beim Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) spricht von einer Zeitenwende. Bei einer Diskussionsrunde des Berufsverbandes der Immobilienfachleute RICS in Berlin zur aktuellen Situation der Wohnungswirtschaft, erklärte er: „Wir werden, um unsere Substanz zu schützen, nicht umhinkommen, die Mieten zu erhöhen.“ Da das stark regulierte Mietspiegelsystem für Mietsteigerungen kaum noch geeignet sei, werde man, um eine schnellere Entwicklung zu ermöglichen, auf Umlagen aller Art nicht verzichten können. „Ohne geht es nicht.“
Bis zu 25 Euro Miete pro Quadratmeter für Wirtschaftlichkeit
Hintergrund sind die drastischen Veränderungen für die Bau- und Wohnungswirtschaft in den beiden vergangenen Jahren. Der BBU vertritt vor allem gemeinwohlorientierte Unternehmen. Deren Rückmeldungen lauten, dass die Baukosten für Neubau derzeit bei 5.000 bis 6.000 Euro pro Quadratmeter liegen und sich die Sanierung aufgrund der gestiegenen Baukosten ebenfalls signifikant verteuert hat. Im Neubau müsste deshalb mit 20 bis 25 Euro Nettokaltmiete gerechnet werden, um wirtschaftlich zu sein. „Die Zielsetzung, die die Politik daraus macht, sind sechs bis sieben Euro und bei freifinanzierten Wohnungen elf Euro. Wie sollen wir den Spagat überwinden?“ Die Antwort lautet: Indem die Mieten auch im Bestand erheblich steigen müssen.
Marktstimmung nicht mehr so düster wie Ende 2022
Immerhin ist die allgemeine Marktstimmung nicht mehr so düster, wie noch im Oktober vergangenen Jahres. Die Inflation lag im März mit 7,4 Prozent niedriger als Raten vorangegangener Monate, da die Energiepreise gefallen sind. Die Experten erwarten für 2023 daher keine Rezession mehr, sondern allenfalls eine Stagflation oder eine Seitwärtsbewegung.
Johannes von Richthofen, Senior Manager Valuation, Modeling & Analytics Real Estate bei PwC, erklärte aber, dass sich ganz wesentliche Faktoren für die Bauwirtschaft nicht verbessert haben: Die Lieferketten sind angespannt. Die Zinswende hat sich bestätigt. „Wir sind auf einem Niveau, dass vor 18 Monaten keiner für möglich gehalten hätte.“ Die bekannte Folge: die Baukosten sind explodiert. „Was uns umtreibt, ist, dass die Preise nicht zu den möglichen Erträgen und die nicht zu den Kosten passen.“
Extremer Druck auf Wohnungsmarkt in den kommenden Monaten erwartet
Marcus Becker, Geschäftsführer der Kondor Wessel Bouw Berlin, hat 33 Jahre Erfahrung im Wohnungsbau und kann das nur bestätigen. Aus seiner Sicht sind weder der Fachkräftemangel noch die Lieferengpässe so erheblich, wie oft dargestellt. „Wir können bauen, aber der Markt ist zum Erliegen gekommen.“ Da die Nachfrage insbesondere in Ballungszentren wie Berlin hoch ist, geht er davon aus, dass extremer Druck auf den Wohnungsmarkt kommen wird. „Wer heute anfängt, ein Haus zu bauen, kann in zwei Jahren 25 Euro Kaltmiete nehmen.“
Ganz klar richtet auch er seine Kritik an die Politik, die billige Mieten verspreche, die Kosten aber von den privaten und gemeinwohlorientierten Unternehmen bezahlen lasse. Wer den Wählern 6,50 Euro verspricht, muss auch wissen, wie das gehen soll. „Keine Partei packt dieses Thema an, alle machen einen Bogen darum, weil sonst 50 Prozent der Wähler weg sind.“ Er zählt eine ganze Reihe politischer Maßnahmen auf, die dem Wohnungsmarkt in den letzten Jahren geschadet haben: Enteignungsdebatte, Mietendeckel, Mietpreisbremse, das Streichen der KfW-55-Förderung. Die versprochene Digitalisierung bleibe aus. Jede normale Baugenehmigung dauere immer länger, weil immer mehr Leute mitreden dürfen.
Und nicht zuletzt das Festhalten an Mieten von 6,50 und sieben Euro bei gleichzeitiger Verlagerung der Daseinsvorsorge des Staates auf den Wohnungsbau. „Das hilft nicht, wenn private Investoren Schulen, Kitas und Ersatzpflanzung bezahlen müssen.“ Es verteuert am Ende das Bauen, das über Mieten refinanziert werden muss. Sozialer Wohnungsbau sei Aufgabe des Staates. „Der soll ihn auch bezahlen.“ Den Fokus für zukünftiges Bauen sieht er unter anderem nicht nur bei kleineren Wohnungen, sondern bei der Ausrichtung auf Energie-Autarkie. „Wenn 90 Prozent der Branche von der Krise betroffen sind, wird das zu Innovationen führen.“
Landeseigene Wohnungsunternehmen bauen weiter
Die landeseigenen Wohnungsunternehmen in Berlin bauen auch in diesem Jahr kräftig weiter. Die Prognose liegt bei 6.000 Wohnungen in 2023. Mario Hilgenfeld erklärte: „Wenn wir das stemmen wollen, dann reichen Debatten um Förderungen nicht, da geht es um die Mieten.“ Im Fachausschuss werde daher überlegt, ob eine Erhöhung der Modernisierungsumlage erforderlich ist. „Wir haben die Begrenzung auf zwei und drei Euro seinerzeit mitgetragen, weil die Zinsen niedrig waren. Jetzt diskutieren wir, ob wir damit hinkommen.“ Dem Argument der Politik, es habe schon andere Zeiten mit vier und fünf Prozent Zinsen gegeben, hielt er entgegen: „Ja, aber nicht bei Baukosten von 6.000 Euro und der Investitionsanforderung: Gehe nicht über los, renoviere alle deine Häuser.“