In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen fehlen barrierefreie Immobilien, nur ein Fünftel der Bedürftigen wohnt angemessen. Ein Immobilien-Experte warnt vor der „nächsten Krise“. Wie der Missstand beseitigt werden kann.
Temba Schuh führt durch die noch leere Wohnung. „Hier in das Bad kommt eine ebenerdige Dusche hinein. Der Platz reicht, um einen Rollstuhl zu wenden“, sagt der hallesche Immobilien-Entwickler. Zwischen den Räumen gibt es keine Schwellen – in einem Schacht im Hausflur wird noch ein Fahrstuhl eingebaut. Die ersten Mieter sollen in das Mehrfamilien-Haus mit elf Wohnungen zum Jahresende einziehen. „Alle Wohnungen sind barrierefrei, damit auch ältere Menschen mit körperlichen Einschränkungen hier wohnen können“, sagt Temba Schuh. Bei der Entwicklung des Projektes in Halle-Nietleben wurde darauf explizit geachtet. Es gebe eine steigende Nachfrage.
Barrierfreier Wohnraum ist knapp in Mitteldeutschland
Barrierefreier Wohnraum ist nicht nur in Halle knapp. Laut einer Studie des Institutes der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln – auf Basis einer Befragung (Mikrozensus) des Statistischen Bundesamtes – fehlen in Deutschland etwa zwei Millionen barrierefreie Wohnungen für ältere Menschen. Vor allem in Mitteldeutschland mit einer vergleichsweise alten Bevölkerung gibt es eine große Versorgungslücke. Von 100?Haushalten, die eine barrierearme Wohnung bräuchten, können in Thüringen – statistisch gesehen – gerade einmal 15,5 versorgt werden. In Sachsen sind es 19,7, in Sachsen-Anhalt 23,5. Die Zahlen beruhen auf Selbsteinschätzungen der Haushalte.
Grafik: Verfügbarkeit altersgerechter Wohnungen
„Es gibt zu wenig altersgerechte Wohnungen, die Senioren mit körperlichen Einschränkungen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen“, sagt IW-Immobilienexperte Philipp Deschermeier. Nach seiner Ansicht wird sich die Lage in den kommenden Jahren weiter zuspitzen: „Es rollt die nächste Krise auf uns zu und trifft uns fast unvorbereitet.“ Diese Einschätzung teilt Jens Zillmann, Verbandsdirektor der kommunalen Wohnungsgesellschaften in Sachsen-Anhalt. Nach seinen Angaben sind von den rund 300.000 kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungen im Land etwa 16 Prozent barrierearm. Das heißt, es gibt keine Treppen zur Wohnung, alle Räume sind stufenlos erreichbar und auch der Einstieg in die Dusche ist ebenerdig. Jens Zillmann betont, dass die Unternehmen durch Modernisierungen in den vergangenen Jahren „schon viel altersgerechten Wohnraum geschaffen haben“. Doch das reicht nicht.
Jens Zillmann verdeutlicht das an folgenden Zahlen: In Sachsen-Anhalt gab es Ende 2022 etwa 492.000 Rentner – das ist knapp ein Viertel der Bevölkerung. Etwa 470.000 Sachsen-Anhalter sind zwischen 55 und 63?Jahre alt. „Die gehen bald in Rente und nicht wenige werden absehbar barrierearme Wohnungen benötigen“, so der Verbandsdirektor. In Sachsen und Thüringen sieht die Bevölkerungsentwicklung ähnlich aus.
Konkurrenz um barrierefreien Wohnraum ist groß
Temba Schuh achtet bei neuen Projekten auf Barrierefreiheit. Als Seniorenresidenz sieht er den Neubau in Halle aber nicht: „Wir wollen eine Durchmischung von jüngeren und älteren Mietern.“ Auch Familien mit kleinen Kindern würden Wohnungen mit Fahrstuhl bevorzugen. Doch die ersten vier Mieter, die ihre Verträge fest unterschrieben haben, sind Senioren. „Diese haben ihre Häuser verkauft und wollen nun in einer Wohnung leben, in der sie auch mit körperlichen Einschränkungen wohnen können“, berichtet Temba Schuh. Der Umzug in die Wohnung geschehe eher aus Vorsorge, weil irgendwann die Bewirtschaftung eines Hauses eine Last sein könnte.
Doch sprunghaft gestiegene Zinsen, hohe Materialpreise und steigende Personalkosten machen Bauen teuer. Die Wohnungen sind laut Temba Schuh alle mit Fußbodenheizung ausgestattet, geheizt wird mit einer Luft-Wärmepumpe. Das Haus sei zudem sehr gut gedämmt. Das habe allerdings seinen Preis. Der Quadratmeter im Neubau kostet etwa 4.000 Euro. Für die Wohnungen, die zwischen 70 und 140?Quadratmeter groß sind, werde eine Kaltmiete von zwölf Euro fällig. Das können sich nicht alle Rentner leisten. Zudem sind die oft großzügig geschnittenen Neubauwohnungen laut IW-Forscher Philipp Deschermeier „auch für alle anderen Haushalte attraktiv, es konkurrieren nicht nur mobilitätseingeschränkte Personengruppen um den barrierefreien Wohnraum“.
KfW-Förderprogramm Altersgerecht Umbauen
Jens Zillmann sieht daher vor allem die Modernisierung von Wohnraum als Lösung, um der Knappheit entgegenzuwirken. Der Verbandsdirektor nennt dafür auch konkrete Zahlen: „Der altersgerechte Umbau einer Wohnung kostet etwa 30.000 Euro.“ Allein über höhere Mieten ließe sich das aber nicht finanzieren, da diese dann stark steigen müssten. Er fordert daher Investitionszuschüsse vom Staat. Als Beispiel nennt er das Aufzugsprogramm in Sachsen-Anhalt. Durch staatliche Zuschüsse seien in den vergangenen Jahren 10.000 Wohnungen mit einem Fahrstuhl ausgerüstet worden. Doch das Programm sei ausgelaufen.
Seit Juli 2017 stellt der Freistaat Sachsen für Maßnahmen zur Reduzierung von Barrieren in Wohnungen beziehungsweise Wohnhäusern über das Förderprogramm Wohnraumanpassung Mittel zur Verfügung. Dieser Zuschuss kann den Angaben zufolge bis zu 80 Prozent, maximal 8.000 Euro, bei Rollstuhlfahrern sogar maximal 20 000 Euro betragen. Über 1.500 Haushalte profitieren inzwischen jährlich von dieser Förderung – Tendenz steigend. Bisher konnten laut Bauministerium insgesamt fast 7.000 Anträge im Umfang von über 45 Millionen Euro bewilligt werden. Im Doppelhaushalt 2023/2024 stehen insgesamt 28 Millionen Euro für das Programm zur Verfügung. „Dieses Förderprogramm entfaltet seine Wirkung direkt bei den betroffenen Personen. Wir unterstützen darüber Mieter beziehungsweise Eigentümer individuell bei der altersgerechten Modernisierung ihres Wohnraums“, sagte der sächsische Bauminister Thomas Schmidt zuletzt.
Auch Philipp Deschermeier plädiert dafür, den Immobilien-Bestand stärker umzubauen. Er verweist dabei auf das KfW-Förderprogramm Altersgerecht Umbauen. Auch der Wissenschaftler hält vor allem Zuschüsse für wirksam: „Rentner wollen in der Regel keinen Kredit mehr aufnehmen oder bekommen auch gar keinen.“ Er fordert die Politik auf, zügig zu handeln: „Wegen der langen Vorlaufzeit bei Planung und Bau brauchen wir Antworten besser heute als morgen.“