Der Berliner Landesverband des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) hat sich während der Koalitionsverhandlungen in der Diskussion um den Wohnungsbau zu Wort gemeldet – und eine Analyse der Annahmen und Berechnungen zu den Neubauzielen bis 2030 vorgelegt. Die Stoßrichtung: Weniger ist mehr.
Im Wahlprogramm hatte die SPD den Bau von 200.000 neuen Wohnungen bis 2030 versprochen. In den Sondierungsgesprächen haben sich die SPD-Genossen mit den LINKEN und Grünen nun auf den Bau von 20.000 Wohnungen pro Jahr verständigt, um den Wohnungsmangel zu beheben. Der BUND-Berlin zweifelt einen Bedarf in dieser Höhe an. „Diesem Neubauziel stehen die jüngst veröffentlichten Zahlen der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung entgegen“, heißt es in einer Analyse des Verbandes. Auf Grundlage der aktualisierten Bevölkerungsprognose ergebe die Rechnung, dass ab 2022 bis 2030 nur 121.000 Wohnungen gebraucht werden, also 60.000 weniger: und damit nur 15.125 pro Jahr. Doch der Bedarf könne laut BUND-Berlin noch geringer sein.
Wie hoch sind Neubaubedarf und damit verbundene Bodenversiegelungen wirklich?
Tilmann Heuser, Landesgeschäftsführer des BUND-Berlin, erklärt: „Es geht uns nicht darum, dass nicht gebaut wird. Wir wollen, dass erst einmal Transparenz bei den zugrunde liegenden Zahlen geschaffen wird und dass wir dann weniger über Quantität, sondern über Qualität sprechen.“ Der BUND-Berlin vertritt den Standpunkt, dass Areale wie das Tempelhofer Feld oder die Elisabeth-Aue aus Gründen des Naturschutzes nicht bebaut, also nicht versiegelt werden sollten – und auch nicht müssen. Die BUND-Analyse basiert auf Daten aus der Bevölkerungsprognose für Berlin, dem Stadtentwicklungsplan (StEP) Wohnen und Berechnungen des SPD-Fachausschusses Soziale Stadt.
In den 2000er Jahren standen in der Hauptstadt noch viele Wohnungen leer. Erst mit Verzögerung hat die Berliner Politik auf die steigende Nachfrage reagiert. Es besteht daher ein Nachhol- und ein zusätzlicher Bedarf, der sich aus dem Bevölkerungszuwachs ergibt. Erst 2019 haben demnach die Fertigstellungszahlen die zusätzliche Nachfrage überschritten, die sich aus der jährlich steigenden Bevölkerungszahl ergibt. Allerdings schwäche sich der Bevölkerungszuwachs bereits seit 2016 ab.
Problem: Bevölkerungswachstumsprognosen ändern sich gerne
Die Grundannahmen im 2019 beschlossenen StEP Wohnen: Laut der 2017 aktualisierten Bevölkerungsprognose für Berlin wird mit einem jährlichen Bevölkerungszuwachs bis 2030 von insgesamt 383.000 Personen auf 3,852 Millionen Einwohner gerechnet. Die Haushaltsgröße liege im Durchschnitt bei 1,75. Daraus errechne sich ein Bedarf von rund 218.000 Wohnungen. Vom derzeitigen Bestand seien 16.000 Wohnungen abzuziehen, die verloren gehen, zum Beispiel durch Abriss. Hinzugerechnet werden rund 40.000 Wohnungen, die bereits zwischen 2013 und 2016 entstanden.
Fazit: Bis 2030 werden 194.000 Wohnungen gebraucht. Laut Baustatistik seien bis 2020 rund 68.000 Wohnungen fertig geworden. Damit bleibe ein Bedarf von 126.000 Wohnungen, von denen bis Ende 2020 bereits 65.000 genehmigt waren. Ein großer Teil sei bereits im Bau. In der BUND-Analyse heißt es: „Der zusätzliche Planungs- und Genehmigungsbedarf liegt damit bei etwa 61.000 Wohnungen, zuzüglich der Ende 2020 zwar genehmigten Wohnungen, die von den jeweiligen Bauträgern nicht realisiert werden.“
Als problematisch erweist sich jedoch, dass die Prognosen für das Bevölkerungswachstum immer wieder angepasst werden müssen und besondere Ereignisse nicht vorhersagbar sind. Aufgrund aktualisierter Daten von 2019 wurde das Bevölkerungswachstum bis 2030 nach oben korrigiert – auf 3,925 Millionen Einwohner. Nach den Corona-Jahren 2020 und 2021 musste der Vorhersagewert wieder gesenkt werden und nun wird ein Zuwachs auf 3,885 Millionen erwartet. „Abzüglich der für 2021 erwarteten Fertigstellungen von 16.000 Wohnungen ergibt sich demnach ein Neubedarf von 121.000 Wohnungen ab 2022.“
BUND-Berlin sieht deutlich niedrigeren Bedarf an Neubauten
Der BUND zieht jedoch ein anderes Fazit: „Der tatsächliche Bedarf dürfte auch bei Eintreffen dieser Bevölkerungsprognose deutlich niedriger liegen. Die bisherigen Bedarfsrechnungen gehen davon aus, dass die durchschnittliche Haushaltsgröße von 1,75 Personen pro Haushalt weitgehend stabil bleibt.“ Der Mikrozensus habe jedoch ergeben, dass die Haushaltsgröße zunehme. Laut der Haushaltsvorausberechnung, die das Statistische Bundesamt im März 2020 veröffentlicht hat, steigt die durchschnittliche Haushaltsgröße in den nächsten Jahren auf 1,81 bis 1,82. Es werden also mehr Menschen in Mehrpersonenhaushalten leben als bisher. Das können Familien sein, aber auch Lebens- oder Wohngemeinschaften. „Plastisch gesprochen: Mehr Familien und Lebensgemeinschaften brauchen mehr große, aber insgesamt weniger Wohnungen.“
In Berlin gibt es derzeit rund 1,98 Millionen Wohnungen. Für eine realistische Abschätzung des Bedarfs sei eine modellgestützte Haushaltsvorausberechnung nötig. Und grundsätzlich ist die Frage: Welche Wohnungen werden zusätzlich gebraucht? In den nächsten Jahren gehen die Babyboomer in Rente. „Bei einer Rente, die nur noch 60 Prozent des Gehaltes ausmacht, wird die Wohnkostenbelastung stark steigen“, sagt Tilmann Heuser. Es wäre also denkbar, dass die Menschen in kleinere Wohnungen ausweichen möchten, wenn sie dadurch Miete sparen können. Das Problem ist, dass neu vermietete kleine Wohnungen heute oft teurer sind als große Bestandswohnungen mit alten Mietverträgen.
Lösungen müssen her - Der Mietendeckel ist keine
Eine Lösung sieht der Landesgeschäftsführer allerdings nicht in Instrumenten wie dem Mietendeckel, der den jetzigen Zustand nur zementieren und keinen Anreiz zum Wohnungswechsel bieten würde. „Es müssen Lösungen gefunden werden, gemeinsam mit Bauherren, Vermietern und der Politik.“ Denkbar wäre eine Umzugshilfe und die Zahlung eines Zuschusses zur Miete bei einem Wohnungswechsel. Denn am Ende profitiert die Gesellschaft, wenn vorhandener Wohnraum besser ausgenutzt wird: durch weniger Versiegelung, durch weniger zusätzliche Infrastruktur, durch mehr Geld, das zur Klima-Ertüchtigung im Bestand zur Verfügung steht. Auch zielgruppenspezifischen Wohnraum sieht er als Teil einer Lösung, etwa Mikroapartments für Fernpendler.
„Der Senat und die Bezirke sollten sich daher auf die kurzfristig realisierbaren Wohnbaupotenziale konzentrieren und dann überlegen, wie viele und welche Wohnungen zusätzlich gebraucht und wie der Gebäudebestand aktiviert werden kann“, sagt Tilmann Heuser. Der Nachholbedarf sei bereits durch genehmigte und zum größten Teil im Bau befindlichen Wohnbauprojekte gedeckt. Baupotenziale für zusätzlichen Neubau sieht er eher im Nachverdichten, also dem Ausbau von Dachgeschossen, der Überbauung von Parkplätzen und anderen Flächen, die nicht effizient genutzt werden. „Die langfristige Absicherung von Wachstumspotenzialen muss sich endlich von der Fixierung auf immer neue Flächen für immer neue Wohnquartiere lösen.“