Lange saß der Lehmbau in einer Nische. Nun boomt dieser historische Baustoff wie nie zuvor und Gebäude aus Lehm gewinnen Architekturpreise. Vor allem wegen ihrer Nachhaltigkeit. Wir sprachen mit Prof. Dr.-Ing. Christof Ziegert, einem Experten der ersten Stunde, der sein Wissen über den Baustoff Lehm unter anderem in die Errichtung des Weleda Logistik-Campus' in Schwäbisch Gmünd einbrachte.
Prof. Dr.-Ing. Christof Ziegert (Jahrgang 1970) ist Honorarprofessor für das Fachgebiet „Lehmbau“ an der Fachhochschule Potsdam sowie Mitinhaber und Geschäftsführer des in Berlin ansässigen Büros ZRS – Architekten Ingenieure. Der gelernte Maurer und Bauingenieur promovierte nach mehrjähriger Berufspraxis an der Technischen Universität Berlin zu Schäden und Sanierung historischer Massivlehmkonstruktionen.
Heute liegt der Schwerpunkt seiner beruflichen Tätigkeit in der Planung, Begutachtung und Sanierung beziehungsweise Konservierung von Lehmbauten im In- und Ausland. Von der IHK zu Berlin ist er öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für „Schäden im Lehmbau“. Er ist zudem Obmann des „DIN-Ausschusses Lehmbau“ und Mitglied im Sachverständigenausschuss „Mauerwerk des DIBt“.
Welche Fachgebiete umfasst der Begriff „Lehmbau“?
Prof. Dr.-Ing. Christof Ziegert: Im Grunde geht’s dabei, wie der Name schon sagt, um den Bau von Gebäuden aus Lehm. Wir unterscheiden tragende Bauweisen wie Stampflehm oder Lehmsteine und nichttragende Bauweisen wie Lehmputz oder Lehmplatten. Ein großes Thema sind auch die historischen Fachwerkausfachungen aus Lehm. Diese Bauweise war lange Zeit Standard. Erst mit dem Wirtschaftswunder, also seit den 1950er- und 1960er-Jahren, kamen andere Materialien wie Ziegel oder Porenbeton ins Spiel.
Auch der Lehmtrockenbau ist ein wichtiges Arbeitsfeld. Lehmsteine, Lehmputz und Lehmplatten können mit wenig Einarbeitung auch von herkömmlichen Handwerkern wie Maurer, Putzer und Trockenbauer ausgeführt werden. Dafür ist keine Spezialausbildung nötig. Andere Techniken in der Sanierung fordern spezialisiertes Wissen. Aber dazu gibt es an vier Handwerkskammerstandorten in Deutschland die Weiterbildung zur „Fachkraft Lehmbau DVL“.
Vorteile von Lehm als Baustoff
Lehm gilt inzwischen als Baustoff mit vielen Vorteilen …
Christof Ziegert: Für den Nutzer ist vor allem folgende Eigenschaft interessant: Lehmbaustoffe können viel besser als andere Baustoffe die Luftfeuchtigkeit zwischenspeichern. Sie sorgen dank dieser Fähigkeit für ein ausgeglichenes Raumklima. Das ist heute nicht nur für Wohnräume von Interesse, sondern auch für Museen und sensible Gewerbeobjekte. In vielen Fällen kann dank Lehm zum Beispiel auf kostenintensive Klimatechnik verzichtet werden.
Ein großer Pluspunkt ist auch der niedrige Primärenergiebedarf bei der Herstellung: Lehm muss nicht durch Brennen aktiviert werden und braucht kein Bindemittel. Die Natur schenkt uns die Bindung – einfach so. Das Beste aber ist: Diese Bindung kann unendlich oft wieder gelöst werden, um dann im Anschluss neu zu erhärten. Lehm lässt sich also wiederverwenden. Bei Bedarf können wir den Baustoff sogar rückstandslos in die Natur zurückführen.
Hier liegt vermutlich der enge Bezug des Lehmbaus zur Nachhaltigkeit?
Christof Ziegert: Für mich sind die beiden Themen untrennbar miteinander verbunden. Lehm ist grundehrlich. Ein wahrhaftiges Original. Etwas Echtes, kein Fake. Und Lehm ist nachhaltig! Deshalb gründeten wir auch bereits vor 20 Jahren ein Planungsbüro mit integriertem Labor, in dem wir Lehmbaustoffe wissenschaftlich untersuchen beziehungsweise entwickeln. Lange saßen wir mit diesem Baustoff in einer Nische. Heute möchten auf einmal alle wieder Lehm verarbeiten lassen, auch öffentliche Bauherren.
Mich wundert das nicht: Selbst im schlechtesten Fall ist Lehm immer noch 50 Prozent „besser“ – im Sinne von nachhaltiger – als herkömmliche Baustoffe. Im besten Fall beträgt der CO2-Fußabdruck von Lehm weniger als zehn Prozent. Inzwischen können wir solche Dinge ausrechnen und den wahren CO2-Fußabdruck eines Baustoffes beziffern. Denn endlich sind hierfür die Berechnungsgrundlagen da.
Woher kommt Lehm als Baustoff?
Woher bekommen Bauherren Lehm als Baustoff und wie muss der beschaffen sein?
Christof Ziegert: Im Fall des neuen Logistik-Campus von Weleda in Schwäbisch Gmünd aus eigenem Bauaushub! Das lohnt sich allerdings meist nur bei größeren Baustellen. Ansonsten gibt es ein Fachhändler-Verzeichnis auf der Website www.dachverband-lehm.de. Inzwischen führen aber auch bereits viele konventionelle Baumärkte verschiedene Lehmbaustoffe im Sortiment.
„Auf meinen Reisen entdeckte ich, dass Lehm ein wahrhaft globaler Baustoff ist.“
Das klingt, als hätte Lehmbau eine große Zukunft vor sich? Ist das so? Und falls ja, in welchen Bereichen? Ist Lehmbau ein übliches Material im Hinblick auf Industriebauten wie den Logistik-Campus von Weleda?
Christof Ziegert: Die Tragfähigkeit von Lehm ist begrenzt: Das bedeutet: Wir können mit Lehm nicht beliebig viele Geschosse errichten. Genau genommen sind es nach unserer neuen Bemessungsnorm für Lehmsteinmauerwerk maximal vier bis fünf Geschosse. Ich sehe Lehm vor allem im Wohnungsbau, wo im Jahr 2022 fast 97 Prozent der Gebäude mit weniger als vier Geschossen entstanden sind. Lehm ist aber auch sinnvoll für Kindergärten und Schulen. Im Industriebau spielt er dort eine Rolle, wo gutes Raumklima wichtig ist – wie bei Weleda im Bereich des Hochregallagers.
Der Weleda Logistik-Campus
Sie waren entscheidend am Bau des Weleda Logistik-Campus beteiligt...
Christof Ziegert: Nico Santuario vom ausführenden Architekturbüro Michelgroup GmbH kontaktierte mich und bat um meine Mitarbeit. Ich schaute mir das Projekt an und prüfte die Unterlagen. Danach fuhr ich in den Süden und hob mit dem engagierten örtlichen Baugrundgutachter auf dem Gelände sogenannte Schürfgruben aus. Die Bodenqualität auf dem Gügling in Schwäbisch Gmünd ist erstaunlich unterschiedlich. Aber der geeignete Lehm war gerade in ausreichender Menge vorhanden. Eine ganze Autoladung davon fuhr anschließend mit mir zurück nach Berlin.
Im Labor tüftelte ich an der richtigen Mischung. Lehm ist ein Naturstoff und in seiner Zusammensetzung sehr verschieden. Für jedes Projekt muss man die Mischung anpassen. Deshalb lohnt sich dieser Aufwand, wie bereits erwähnt, nur bei größeren Bauvorhaben. Im Fall von Weleda war unser Vorgehen aufgrund der Größe des Logistik-Campus sogar preislich von Vorteil. Abgesehen davon haben mein Mitarbeiter Benedikt Füger und ich auch die Tragwerksplanung für die Stampflehmwand berechnet und konstruiert.
Wer kann mit Lehm planen und wie geht es für den Baustoff weiter?
Können alle Architekten und Planungsbüros mit dem Werkstoff Lehm umgehen? Wonach sollten Interessierte Ausschau halten?
Christof Ziegert: Die meisten Architekten und Ingenieure kennen sich nicht auskömmlich mit Lehm aus. Das kann ihnen niemand vorwerfen – gibt es doch bisher an den wenigsten Hochschulen Angebote zum Lehmbau. Viele Architektenkammern nehmen aber aktuell Fortbildungen zum Thema in ihr Programm auf. Bei Studierenden indes ist das Interesse riesig. Anscheinend findet gerade ein Generationenwechsel statt. An der Bauhaus Uni Weimar wurde sogar kürzlich für mehr Lehrangebote zu den Themen „Nachhaltiges Bauen“ und „Lehmbau“ gestreikt!
In letzter Zeit werde ich immer häufiger von Architekturschaffenden kontaktiert, die sich für Lehm interessieren. Dass man damit in der heutigen Zeit Wettbewerbe gewinnen kann, spielt vermutlich ebenfalls eine Rolle. Einige Fachleute sind Autodidakten, andere nutzen Weiterbildungsangebote, Literatur und Regelwerke. Der Baustoff Lehm ist glücklicherweise inzwischen derart durchreguliert, dass kein Risiko für Bauherren besteht. Wer erfahrene Experten sucht, kann sich an den bereits erwähnten Dachverband Lehm e. V. wenden. Wir sind in der Branche sehr gut vernetzt.
Woran wird aktuell geforscht?
Christof Ziegert: Viele Hersteller entwickeln im Augenblick neue Baustoffe. Im Fokus steht vor allem der Bau von Mauerwerk mit Lehmsteinen. Es gibt, wie gesagt, eine neue Norm, die es gestattet, mit Lehmstein tragend bis zu fünf Geschosse zu bauen. Das ist ein riesengroßer Fortschritt, denn bisher waren es nur zwei.
Und wie geht es für Sie persönlich weiter – Ihren Beruf betreffend?
Christof Ziegert: Meine Arbeit ist sehr vielfältig. Im Auftrag des Lehms durfte ich schon 32 Länder bereisen und historische Lehmbauten sanieren. Demnächst breche ich nach Kuwait auf. Parallel konservieren wir gerade den Weißen Tempel in Uruk. Er liegt im südlichen Irak und ist 5.500 Jahre alt. Gemeinsam mit ortsansässigen Archäologen retten wir die Reste der alten Anlage. Ich darf also mit Menschen zusammenkommen und Orte besuchen, die kaum ein Tourist je zu Gesicht bekommt. Auf meinen Reisen entdeckte ich, dass Lehm ein wahrhaft globaler Baustoff ist.
Natürlich arbeite ich auch daran, den Lehmbau insgesamt voranzubringen. Hierfür sitze ich in verschiedenen Gremien. Diese Gremien und allgemeine Lobbyarbeit sind mir sehr wichtig. Denn nur so bringen wir den Lehmbau wirklich in die Breite. Er soll schließlich kein Expertenwissen bleiben! Deshalb treibt mich auch das Thema Weiterbildung um: Mit dem Lehrgang „Fachkraft Lehmbau“ gibt es endlich einen anerkannten Kurs, der viermal im Jahr an verschiedenen Standorten stattfindet. Auch ich unterrichte dort. Jährlich schicken wir auf diese Weise bis zu 80 neue Lehmbauer in die Welt.