Die Bauwirtschaft zählt zu den wenigen Branchen, die vom Lockdown weitgehend verschont blieb. Und trotzdem wurde das Virus hier zum Treiber - der Digitalisierung! Aydin Karaduman, Europachef des Bauunternehmens ISG, erklärt, welche Tools auf Baustellen bereits eingesetzt werden und wie groß die Bereitschaft zur Digitalisierung der Baustellen gegenwärtig ist.
IMMOBILIEN AKTUELL: Sehen Sie in der Corona-Krise einen Treiber für die Digitalisierung auf deutschen Baustellen?
Aydin Karaduman: Absolut. Die Corona-Krise ist auch an der Bauwirtschaft nicht spurlos vorbei gegangen. Wir konnten den Betrieb auf den meisten Baustellen in Deutschland während der Pandemie zwar weiterhin aufrechterhalten, durch die Einschränkungen hinsichtlich Mobilität und Kontaktbeschränkungen sind aber innovative Lösungsansätze gefragt. Die digitale Baustelle ist somit gerade jetzt wichtiger denn je; in Deutschland steht sie aber noch immer am Anfang. Der Zeitpunkt ist günstig: Die Bereitschaft in der Bauwirtschaft, digitale Lösungen zu testen und Neues zu wagen, wird spürbar größer. Unternehmen sollten die Krise zum Anlass nehmen, ihre Arbeitsabläufe zu überdenken und die Digitalisierung voranzutreiben. Digitale Tools wie Augmented Reality und 3D-Modellierung lassen sich nicht nur nutzen, um die Anwesenheit auf der Baustelle zu reduzieren, sondern ermöglichen auch eine schnellere Planung und eine effektive Dokumentation am Bau.
Digitalisierung kann Synergien erzeugen
IMMOBILIEN AKTUELL: Warum hängt die deutsche Baubranche in diesem Bereich hinterher?
Aydin Karaduman: Die Baubranche in Deutschland ist sehr kleinteilig und stark mittelständisch geprägt. Es gibt also kaum große Unternehmen, die den finanziellen Erstaufwand einer digitalen Baustelle stemmen können. Zudem hinken wir beim partnerschaftlichen Bauen hinterher. Für eine effiziente Zusammenarbeit müssten Bauunternehmen bereits früh involviert werden, damit sie gemeinsam mit Architekten und Fachplanern arbeiten können. Stattdessen gibt es in Deutschland meist noch eine klare Trennung zwischen Planung und Ausführung. Genau an diesem Punkt kann Digitalisierung ansetzen und Synergien erzeugen.
IMMOBILIEN AKTUELL: Inwieweit nutzen Sie Erfahrungen aus Großbritannien, dem Heimatland von ISG?
Aydin Karaduman: In Großbritannien ist man im Bereich Digitalisierung schon sehr viel weiter. Dort nutzen wir auf allen Baustellen technische Hilfsmittel, die wir auch in Deutschland zum Standard erheben werden. Dazu zählen Virtual-Reality-Brillen für virtuelle Baustellenbegehungen, Bauhelme mit Webcams oder auch Apps mit Anweisungen für Gesundheit und Sicherheit auf der Baustelle.
Vorteile der digitalen Baustelle
IMMOBILIEN AKTUELL: Wie nutzen Sie diese Tools auf Ihren Baustellen?
Aydin Karaduman: Bei einigen Projekten nutzen wir beispielsweise Bauhelme mit Webcams, die eine 360-Grad-Ansicht der Baustellen ermöglichen. Eine Person trägt hier eine kleine Kamera auf ihrem Schutzhelm, die während der Inspektion der Baustelle selbstständig Aufnahmen macht. Andere Systeme funktionieren ganz einfach über Apps. Die Aufnahmen werden dann in die Cloud eingespeist. Im Anschluss wird auf Basis von digitalen Raumplänen ein webbasiertes 3D-Modell der gesamten Baustelle erstellt. Das hilft allen beteiligten Akteuren und ermöglicht dem Kunden und unseren Mitarbeitern, sich auch aus der Ferne ein Bild über den Baufortschritt zu machen. Damit minimieren wir die Anzahl der Personen vor Ort und ermöglichen so ein sicheres Arbeiten auf der Baustelle. Aus den Aufnahmen können auch Videos und Führungen erstellt und weitere Daten wie Texte, Links oder Videos ergänzt werden. Das bietet sich dann vor allem für den Endkunden an und erhöht Kundenbindung und Reichweite.
IMMOBILIEN AKTUELL: Welche Vorteile bringt die digitale Baustelle noch?
Aydin Karaduman: Der Bauherr spart dadurch eine Vielzahl an Besprechungen, Begehungen und Kontrollschritten, da die Live-Begehung der Baustelle online erfolgt. Außerdem befördert die digitale Baustelle eine raschere Übergabe des Baus. Der Prozess kann kontinuierlich dokumentiert werden, wodurch sich Verzögerungen minimieren. Das Mängelmanagement wird deutlich vereinfacht, da einzelne Schritte visuell festgehalten und jederzeit als Nachweis herangezogen werden können. Nicht zuletzt belegen unsere Statistiken die Reduzierung von Unfällen durch Helmkameras und digitale Wegmarkierungen.