Corona und Retail: Wie geht es weiter mit dem Einzelhandel?

Corona und Retail: Wie geht es weiter mit dem Einzelhandel?

Corona und Retail: Wie geht es weiter mit dem Einzelhandel?
Der Einzelhandel wird sich wandeln (müssen). Copyright: Eduardo Davad auf Pixabay

Die Assetklasse Retail steht europaweit unter einem gewaltigen Restrukturierungsdruck. Im Gespräch mit Experten wirft Walter Senk einen Blick auf die aktuellen Entwicklungen, auf die mittelfristige Entwicklung und welche Themen sich langfristig abzeichnen.

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Die Assetklasse Retail steht europaweit unter einem gewaltigen Restrukturierungsdruck. Zwar hat sich der aktuelle Trend schon seit Jahren abgezeichnet, allerdings wurde er bis März 2020 durch die sehr gute konjunkturelle Situation in den letzten Jahren überdeckt. In der aktuellen Pandemiekrise zeigen sich die Bruchstellen deutlich. Die Pandemie wirkt wie ein Katalysator für eine Krise, die sich durch die Onlinekonkurrenz, das Kaufhaussterben und verändertes Einkaufsverhalten bereits abzeichnete. Mit wenigen Ausnahmen werden die Handelsflächen in zehn Jahren komplett anders aussehen – und mit ihnen die Innenstädte. Der Online-Handel ist gekommen, um zu bleiben. Physisch-stationäre Geschäfte müssen künftig mehr bieten als nur Ware, um Kunden zu locken: Nämlich Service, Beratung, Dienstleistung und Gastronomie. Im Gespräch mit Experten rollt Walter Senk die brennendsten Fragen zum Thema Einzelhandel auf.

Wie steht es um die aktuelle Lage am Markt?

Romina Jenei, Head of Consulting bei Regio Plan Consulting, eröffnet die Runde mit einem Gesamtblick auf die Lage in Österreich. Sie sagt: Prognosen, „die wir für die kommenden fünf Jahre angenommen haben, bestätigen sich früher“ – Stichworte Online-Handel, verändertes Konsumverhalten. Der Online-Handel habe im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr ein Plus von 20 Prozent erfahren. Währenddessen hat der stationäre Handel ein Minus von 30 Prozent im selben Zeitraum verzeichnet. Einen starken Flächenrückgang beziehungsweise „Flächenbereinigungen“ sieht Jenei vor allem in den Bereichen Bekleidung, Schuhe, Accessoires. Auf der anderen Seite konnten der Lebensmittel- und Drogeriefachhandel Umsatz-Zuwächse erleben. Branchen, die nicht lebensnotwendige Artikel anbieten würden mit weiteren Rückgängen rechnen müssen.

Stefan Goigitzer, COO Managing Partner von Coore, wird gefragt, wie es um die „High Street und Shopping Center“ und die Bezirks-Einkaufsstraßen steht. Der stationäre Handel im High-Street-Bereich – etwa in der Salzburger oder Wiener Innenstadt – habe Umsatzrückgänge von „50 bis 60 Prozent“ erlitten. „Interessanterweise“ hätten Bezirkseinkaufsstraßen in der Pandemie profitiert – weil Menschen regional einkaufen, statt Shopping Center aufzusuchen. Ebendiese Shopping Center hätten gelitten – „weil die Menschen verunsichert waren, in große Center zu gehen“.

Verhältnis Mieter-Vermieter in Corona-Zeiten

Zum Verhältnis Mieter-Vermieter, Ketten- und Einzelmieter wird Patrick Homm, Leiter Immobilienvermarktung Gewerbe bei Otto Immobilien, gefragt. Der logische Vorteil großer Ketten im (inter)nationalen Geschäft: Umsatzeinbußen mancher Filialen würden insgesamt abgefangen. Mit der Größe gehe auch eine höhere Kostenstruktur einher und „eine enorme Verantwortung für die große Zahl der Mitarbeiter“. Der Einzelbetreiber im Gegensatz dazu „kann als Geschäftsinhaber selbst im Store stehen, kann Kosten optimieren, kann rasch reagieren“. Der Nachteil des Einzelbetreibers: Es gibt keinen Erfahrungsschatz, was an verschiedenen Standorten wie gut – oder schlecht – funktioniert, erklärt Homm. Jedenfalls suche er „individuelle, an den Standort angepasste Lösungen“ für Mieter.

Mario Schwaiger, Leiter des Geschäftsbereichs Retail der EHL Gewerbeimmobilien, sieht eine Art „Aufbruchstimmung“, vor dem Hintergrund einer baldigen Covid-Impfung. „Wir haben jetzt wieder internationale Anfragen, was vergangenes Jahr kaum der Fall war, und auch in den Innenstadtlagen tut sich was“, fasst Schwaiger die Situation zusammen. Es gebe eine deutliche Zuversicht, dass der Tourismus bald zurückkehrt: „Jetzt ist die beste Zeit, sich gute Lagen zu sichern, die frei stehen oder zur Verfügung sind.“ Ein Problem derzeit gebe es vor allem bei Besichtigungen und Standortprüfungen vor Ort – „die sind ja nicht wirklich möglich, das ist ein großes Thema“, sagt Schwaiger, „es dürfen keine Bauteams internationaler Unternehmen kommen“, das würde den „Run“ auf gute Flächen wohl noch ein wenig bremsen.

Mieten, Immobilien-Abwertungen und Flächenbereinigungen

Wann werden Objekteigentümer niedrigere Mieten akzeptieren? Stefan Goigitzer erzählt im Zusammenhang mit dieser Frage von Kundengesprächen in Deutschland, wonach Betroffene „teilweise 50 Prozent unter Markt abschließen“. Trends aus Deutschland kämen mit Verzögerung nach Österreich. „So intensiv wird es uns nicht treffen, weil wir strukturell anders aufgestellt sind“, aber auch in Österreich werde es zu Mietpreisreduktionen kommen. „Die Frage ist: Habe ich es mit einem Privaten zu tun“, erklärt Goigitzer, „oder mit einem Institutionellen?“ Bei Institutionellen – Fonds, Versicherungen – wo mehr Kapital dahintersteht, werde man sich wohl „schwer tun, die Miete zu reduzieren und damit das Objekt um 20 bis 30 Prozent abzuwerten“.

Wenn in Folge der Pandemie-Krise bis zu 15 Prozent an Einzelhändlern und Gastronomie Insolvenz anmelden müssen – was passiert dann mit den Flächen? Darauf antwortet Romina Jenei. „Die Flächen werden anders genutzt“, ist sie sich sicher, „der Einzelhandel und die Shopping Malls werden die High Streets nicht mehr dominieren.“ Es werde mehr „urbane Funktionen“ geben müssen, im Sinne der stadtplanerischen Perspektive – etwa Kindergärten, Schulen, soziale Angebote, kommunale Infrastruktur – und damit „weg vom klassischen Branchenmix“. Je nach Handelszone werde es natürlich verschiedene Fokussierungen geben – vom Nahversorger bis zur Gastronomie. Die überregionalen Shopping Malls würden schon jetzt viel mehr als nur Einzelhandel bieten: etwa mit Ärztezentren, Polizeistationen, Dependancen des Arbeitsmarktservice (AMS). „Dieser Trend wird Städte spannender machen“, ist Jenei überzeugt.

Was tun mit leerstehenden Flächen? Ist Pop-Up die Lösung?

Ist es ratsam, mit dem Vermieten noch zu warten – weil mit der Covid-Impfung auch der Lockdown endet? Patrick Homm sagt: „Das ist nicht absehbar. Dass es im dritten Quartal besser wird, ist Spekulation.“ Wenn ein „passender Mieter für die kommenden Jahre“ vor der Türe stehe, sei es wohl besser, „den Abschluss zu suchen“. Übergangsweise könnten Flächen mit „Pop-Up-Stores“ interimistisch genutzt werden, um sie nicht komplett leer stehen zu lassen. Auch würden große Retail-Ketten neue Standorte erst einmal „testen“, bevor sie dauerhaft bleiben.

Mario Schwaiger ergänzt um ein Uni-Projekt, in dem sich Studenten Gedanken über „das Pop-Up-System zur Überbrückung von Leerständen“ gemacht hätten. Diese Kurzzeit-Nutzung bringe allerdings auch Nachteile: Man kenne den Mieter nicht, die Planung sei zeitintensiv, rechtliche Themen wie Haftung und Betriebsanlagengenehmigungen müssten geklärt werden. „Das alles hält diese Pop-Up-Welle ein wenig auf.“ Grundsätzlich sei es eine „tolle Idee, Leerstände zu bespielen“ – zum Beispiel als zweiwöchiges Atelier für Künstlerinnen und Künstler, die ihre Werke dort zeigen. Die vielen – zum Teil rechtlichen – Unsicherheiten müssten aber aus dem Weg geräumt werden. Schwaiger regt auch ein „Bewertungs-System für Mieter“ an, „ähnlich wie Amazon“, auf dass Vermieter bei Pop-Up-Ideen vorab ein Bild der Mieter bekommen.

Pop-Ups können auch über internationale Konzepte passieren, etwa im High-End-Gastro-Bereich.  Stefan Goigitzer sieht „hier sicher kein mangelndes Interesse der Vermieter und auch keinen Mangel an Fläche“ – aber die rechtliche Situation in Österreich „ist schlichtweg komplexer als in London oder Miami oder Dubai“. Genehmigungsverfahren hierzulande dauern „sechs bis acht Monate, per se schon ein Wahnsinn“, sagt Goigitzer, somit seien Pop-Up-Restaurant-Ideen wohl nur dort umzusetzen, „wo ich bereits eine genehmigte Gastrofläche habe“.

Große Ketten gehen insolvent – was passiert mit deren Flächen?

Die Modeketten Pimkie und Adler hatten jüngst die Insolvenz gemeldet. Was passiert mit der Vielzahl an Flächen, die damit frei wird? „Das kommt natürlich auf den Standort an. Es gibt einige Standorte in der B-Lage“, sagt Patrick Homm und betont: Anders als vor einigen Jahren noch stehen die Retailer „nicht mehr Schlange vor dem Eigentümer“. Die Zeiten, wo sich der Eigentümer die Retailer aus einer großen Interessentenschar aussuchen kann, seien vorbei. Homm empfiehlt allen Eigentümern und Vermietern auch: „Wenn ein Ende der Miete absehbar ist, gehen Sie früh in die Vermarktung. Es dauert bis zu 18 Monate, bis der nächste Mieter einzieht.“ Auch in B- und C-Lagen gebe es „gute Möglichkeiten, in der digitalen Community um potenzielle Käufer zu werben“.

Was muss der Handel künftig mehr können? Ist Corona nur Brandbeschleuniger für das Reinigen der Handelsstruktur?

„Das Konsumverhalten hat sich geändert. Reines Herzeigen von Ware reicht nicht mehr, das kann der Online-Handel besser“, sagt Romina Jenei. Wer „die Couch verlassen will, um wirklich zu shoppen, will etwas Spezielles“. Das könnten besondere Service-Leistungen oder Events vor Ort sein, oder die persönliche Beratung und Organisation. Es brauche den Mehrwert über die schlichte Ware hinaus, sagt Jenei. „Die Menschen waren im Lockdown eingesperrt und wollen jetzt beim Shopping ‚offline‘ nachholen, was sie versäumt haben“, aber das werde die bisherigen Ausfälle nicht kompensieren können. Das emotionale Erlebnis müsse aber der Händler selbst schaffen – „das kann der Vermieter nicht bewerkstelligen“.

Wenn sich insolvenzbedingt die Spreu vom Weizen trennt – ist das die Bereinigung der Handelsstruktur, die Corona bringt? Mario Schwaiger sagt: „Wer seine Hausaufgaben, wie Onlinehandel, schon in den vergangenen Jahren gemacht hat, kommt jetzt besser durch.“ Überraschend viele Händler hätten bis zuletzt überhaupt keinen Onlinehandel im Angebot gehabt. Größere Ketten würden sich wohl von einer Handvoll Filialen trennen, die nicht den erwarteten Umsatz bringen – und gleichzeitig im Online-Handel optimieren.

Wird der Handel regionaler? Was bedeutet das für Flagship Stores der Großen?

Patrick Homm setzt auf „Individualität und Nachhaltigkeit“, der Handel werde nur durch „Mehrwert und Abholen des Kundens“ einen Vorteil gegenüber dem Online-Handel aufbauen können. Ein Store, ein Geschäft müsse sich seine „eigene Community aufbauen“, die zwischen online und offline verschwimmt und eine Bindung zur Marke schaffe.

„Die Pandemie ist eine Chance für viele Kleine, aus der Regionalität heraus auch Shops in Lagen zu öffnen, die vorher undenkbar gewesen wären“, sagt Stefan Goigitzer und sieht eine „große Chance für den Einzelhandel“ abseits der großen Shopping-Destinationen wie „London oder Paris, wo ich mir die Miete nicht mehr leisten kann“. Auch eine neue Wertehaltung der jungen Generation werde den Handel nachhaltig verändern – weil die Nachfrage nach mehr Nachhaltigkeit und Regionalität gehe.

Mario Schwaiger erinnert an internationale Ketten wie „H&M“ – dort „wird das Shopping zum Erlebnis, dort kann ich die Kleider gleich zum Schneider bringen“. Dienstleistungen wie „Kosmetik, Nagelstudio und Friseur schaffen Service-Mehrwert“, sagt er und „da muss die Reise hingehen, auch in der Fläche an sich. Die Flächenstruktur werde sich verändern – etwa durch 24-Stunden-Abhol-Terminals oder Click-and-Collect-Stationen. „Da ist Mut gefragt, aber da ist viel möglich“, meint Schwaiger.

Patrick Homm ergänzt um die Idee des „community buildings“, wonach große Fashion-Ketten (welche eigentlich über Online-Business gute Einnahmen hätten) ihre stationären Stores um Gastro-Angebote erweitern. Unter dem Strich müsse also eine Aufenthaltsqualität mit Mehrwert stehen – „dann sind die Kunden auch bereit, öfter in den Shop zu kommen und mehr Geld auszugeben“.

Online oder „brick-and-mortar“, der Unterschied zwischen Stadt und Land - und wohin geht die Gastronomie?

„Es wird sich wohl bei 50:50 einpendeln“, prognostiziert Romina Jenei die künftige Verteilung zwischen physischem Retail und Online-Handel. Dabei komme es nicht auf die Größe der Stadt an: Auch in Wien gebe es Großeinkaufsmöglichkeiten und regionale Angebote. Dasselbe sei in Mittelstädten der Fall. Wichtiger sei, dass die Handelszonen auf ihre Einzugsgebiete spezialisiert sind, vom Nahversorger bis zum kompletten Branchenmix. „Was große Shopping-Center gut können: das einheitliche Management“, erklärt Jenei, und erinnert an den – oft fehlenden – „Willen und die Macht“ ganzer regionaler Geschäftsstraßen, sich unter ein Gesamt-Management zu stellen.

Anderes Thema: Wird sich die System-Gastro jetzt durchsetzen? Nein: Junge, aufstrebende Konzepte hätten jetzt die Möglichkeit, ihre Ideen zu realisieren, sagt Stefan Goigitzer. Das betreffe insbesondere „spannende Konzepte“ in Seitenlagen und Bezirkseinkaufsstraßen. Die klassische „Systemgastronomie findet sich dann eher in den High Streets wieder, wo früher die Fashion war“, meint Goigitzer.

Self Storage als Trend, neue Online-Händler und E-Sport-Areas als Chance

„Gurkerl.at als neuer Online-Supermarkt mit Rund-um-die-Uhr-Lieferzeiten bis Samstagmitternacht macht das ganz gut“,  sagt Mario Schwaiger und erinnert, dass diese Anbieter entsprechende Flächen für ihre Logistik brauchen. „Ich kenne eine Diskothek im 15. Bezirk, die hat zugesperrt. Die Fläche wurde geprüft, für gut befunden. Das ist ein Einzugsgebiet mit vielen Wohnungen, hat eine gute Lage“, sagt Schwaiger – dort mache Supermarkt-Logistik Sinn. Aber: Einem Vermieter müsse klar sein, „dass das Mietniveau bei Self-Storage-Konzepten ein ganz anderes ist als bei der klassischen Geschäftsmiete“.

Mit eigenen E-Sport-Areas lassen sich auch außerhalb der klassischen Geschäftsöffnungszeiten junge Kunden anziehen – und damit neue Geschäftsfelder eröffnen. „Das haben wir definitiv auf dem Radar“, fasst Patrick Homm zusammen.

Ein Blick in die Zukunft

Wo stehen wir in fünf Jahren? Die Expertinnen und Experten geben ihre persönlichen Prognosen ab.

Romina Jenei sieht die Innenstädte in fünf Jahren „keinesfalls tot, aber ganz anders“. Handelszonen würden „komprimierter und konzentrieter“, Flächen würden verkleinert und bereinigt. Insgesamt werde der Handel „individuell und spezialisierter“, was natürlich auch bedeutet, dass „manche auf der Strecke bleiben“.

Patrick Homm sieht für die High Streets mehr „Shops als Showrooms“. Dort werde nicht mehr die gesamte Produktpalette geboten, sondern ein Look-and-Feel der Marke, quasi als Appetizer – der Rest passiere dann über den Online-Handel.

Stefan Goigitzer rechnet vor allem mit „coolen, regionalen und jungen Konzepten“, auch in der Gastro, „jedenfalls mehr Vielfalt“ in den Einkaufsstraßen.

Mario Schwaiger beobachtet „spannende Entwicklungen“, etwa den neuen IKEA-City-Store am Beginn der Äußeren Mariahilfer Straße in Wien. Auch stehe das „KaDeWe-Wien“ in den Startlöchern und der Standort werde zusätzlich aufgewertet um die Themen Nachhaltigkeit und Umweltschutz: Immer mehr Shops werden geplant zum „Showroom für E-Mobilität“. Mit Events und Veranstaltungen werde wieder „mehr Leben in die Stadt kommen“, ist sich Schwaiger sicher. Irgendwann, nach der Pandemie.

Dieser Artikel erschien zuerst auf immobilien-redaktion.com

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