Heike Gündling, CEO von 21St Real Estate, legt in einem Gastkommentar für IMMOBILIEN AKTUELL dar, wie die Dekarbonisierung der Branche funktionieren kann, warum es dringend Standards braucht und wie die digitale Durchdringung vorangeht.
Ein Rekord jagt in der deutschen Proptech-Branche den nächsten: Wurde mit 502 Millionen Euro Venture Capital für Immobiliendigitalisierer im Jahr 2021 laut einer Studie des Beraters blackprint ein neuer Rekord aufgestellt, summieren sich die Investitionen im ersten Halbjahr 2022 bereits auf 621 Millionen Euro. Das Vertrauen der Investoren scheint von Jahr zu Jahr zu wachsen. Die Wahrnehmung der Relevanz des Themas Digitalisierung nimmt erkennbar zu. Endlich kommt der lang erwartete Schwung in den Transformationsprozess – der auch bitter nötig ist, schließlich zählen die Bau- und Immobilienwirtschaft zu den am wenigsten digitalisierten Branchen, zeitgleich aber auch zu den größten CO2-Verursachern.
Regulierung und Krisen sind Treiber der Transformation
Doch woher kommt gerade jetzt der Boom in Sachen Digitalisierung? Hier sind mindestens drei ganz wesentliche Treiber zu identifizieren. Zum einen bewirken die aktuellen Rahmenbedingungen, die zum Teil durch die Corona-Pandemie und den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine geschaffen wurden, dass sich Immobilienunternehmen stärker als je zuvor mit digitalen Lösungen auseinandersetzen müssen: drastisch gestiegene Baukosten, steigende Zinsen, Lieferengpässe, zunehmender Margendruck und anhaltender Fachkräftemangel sind hier als Stichworte zu nennen. Digitale Tools helfen, präzisere Marktanalysen durchzuführen und Prozesse zu beschleunigen und zu verschlanken.
Ein zweiter Faktor ist der hohe Reifegrad, den die angebotenen digitalen Lösungen inzwischen erreichen: Sie sind in unterschiedlichsten Bereichen heute erprobt und ausgereift und besitzen eine Anwendungsbreite und -tiefe, die eine wachsende Zielgruppe anspricht. Darüber hinaus kommt ein dritter, ganz wesentlicher Treiber von der EU und dem zentralen Ziel, die europäische und damit auch die deutsche Immobilienwirtschaft, wie andere Teile der Wirtschaft auch, zu dekarbonisieren. Mit der Taxonomie- und der Offenlegungsverordnung gehen für die europäische Bau- und Immobilienbranche umfassende Reportingpflichten zu ESG-Faktoren einher, zu deren Einhaltung eine umfassende Datengrundlage notwendig wird.
Daten werden zum wertbestimmenden Faktor
Diese aktuellen Marktentwicklungen und Regulierungen führen dazu, dass Immobilieninvestoren, Projektentwickler, Bauträger und Immobilienfinanzierer ihre Investitionsentscheidungen sehr sorgfältig und mit Blick auf die Folgen des Klimawandels prüfen müssen. Zusätzlich bewirken die Folgen des Klimawandels, dass Banken, Versicherungen und Finanzierer ihre Risikobewertung für Immobilien verschärfen – allein das Sturmtief Bernd hat 2021 einen Schaden von 5,5 Milliarden Euro verursacht.
In Summe steigt der Bedarf an Daten als Grundlage für Entscheidungsprozesse enorm: Marktdaten, Verbrauchsdaten, Gebäudedaten, Lageinformationen, Nutzerdaten, sozio-demographische und sozio-ökomische Daten, Daten zu Umweltgefahren, Mietspiegel et cetera. Hinzu kommt, dass diese Datenflut effizient erhoben, analysiert, aktualisiert, reportet und die daraus resultieren Ergebnisse richtig genutzt werden müssen. Dies ist nur noch mittels digitaler Anwendungen zu bewältigen. Daten werden zur harten Währung und ersetzen zunehmend die Losung von „Lage, Lage, Lage“ als wertbestimmenden Immobilienfaktor Nummer eins.
Digitale Ökosysteme sind die Zukunft
Die Bau- und Immobilienwirtschaft ist eine sehr fragmentierte Branche. So spiegelten die digitalen Lösungsansätze und Produkte anfänglich die große Zersplitterung wider und Insellösungen mit Spezialanwendungen bestimmten das Angebot. Mittlerweile ist man hier weiter: Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es einen durchgehenden Daten- und Informationsfluss braucht, um den aktuellen Herausforderungen begegnen zu können. Das digitale Ökosystem ist zum Idealbild dieser Vorstellung geworden: Ein Verbund vernetzter, digitaler Anwendungen ohne Informationsverlust. In der Praxis bedeutet dies, dass sich die Branche auf Datenstandards und standardisierte Schnittstellen, sogenannte REST-APIs, einigen muss. Die Bereitschaft unter den Proptechs zur Kooperation ist enorm gestiegen und es gibt zahlreiche Brancheninitiativen, die das Thema Standardisierung voranbringen. So erarbeitet beispielsweise derzeit eine Brancheninitiative rund um das Fraunhofer Institut und den DGNB gemeinsam mit Unternehmen der Proptech-Szene einen Datenstandard für die ökologische Analyse von Immobilien, die DIN SPEC ESG für Daten.
Fazit zur Digitalisierung: Die Branche ist im Umbruch
Lange Zeit wurde der digitale Fortschritt skeptisch beäugt – mittlerweile erkennen die Branche aber zunehmend den Mehrwert. Die digitale Durchdringung wird in den kommenden Jahren deutlich schneller vorangehen, da sich einerseits der Innovationsdruck angesichts sinkender Margen, Fachkräftemangels und sich stetig ändernder Regulatorien und Vorschriften erhöht und sich andererseits die Digitalisierung als wesentlicher Faktor für mehr Resilienz und Wettbewerbsfähigkeit erwiesen hat. Außerdem rücken junge Arbeitskräfte in die Bau- und Immobilienwirtschaft vor, die als „Digital Natives“ eine positive Grundeinstellung gegenüber digitalen Tools mitbringen und deren Einsatz mitunter voraussetzen oder gar forcieren. Gleich von mehreren Seiten weht ein frischer Wind durch die Branche.