Peter Rabitz, Geschäftsführer der Rabitz Property Consulting, blickt auf die Zeit nach der Insolvenz des Bankhauses sowie die damit verbundenen Kontrollmechanismen und ordnet deren Funktionalität in der aktuellen Situation ein.
2023 jährt sich die Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers zum fünfzehnten Mal. Welche Folgen sind bis heute an den Hotspots der Immobilienbranche in Deutschland, zum Beispiel am Standort Berlin, zu erkennen?
Peter Rabitz: Meiner Meinung nach hat die Immobilienbranche als Ganzes enorm viele Lehren aus dieser Zeit gezogen. Nicht zuletzt sind es die neu eingesetzten Kontrollmechanismen bei Finanzinstitutionen und Banken gewesen, von denen der Markt bis heute profitiert. Das gilt nicht nur für die US-Amerikanischen Märkte, die bis 2007/08 nur sehr zurückhaltend reguliert worden sind.
Auch die Immobilienmärkte in Deutschland und Berlin wurden so vor schlimmen Nachbeben der Krise verschont. Diese Mechanismen greifen heute deutlich früher und effizienter und würden beispielweise staatlichen Akteuren rechtzeitige Signale zur Intervention senden – was eine Neuauflage der Krise deutlich unwahrscheinlicher macht.
Unaufhaltsame Dynamik für private Haushalte
Gab es Anfang der Nullerjahre schon erste Anzeichen dafür, dass eine Krise von so einer Tragweite kommen wird?
Peter Rabitz: Absolut. Die damals entfachte Finanzkrise kündigte sich bereits in den Jahren davor still und leise an. In den USA boomte der Hauskauf von Privatpersonen, die in der Regel nicht über die Einkommen verfügten, die es braucht, um sich ein Haus oder eine Immobilie kaufen zu können. Dennoch wurden unkompliziert und schnell Kredite verliehen, um den Deal zu finanzieren. Kredite standen zusätzlich bei den Haushalten für zum Beispiel Autos, Haushaltsgeräte oder Unterhaltungselektronik in den Büchern. Die finanziellen Belastungen stiegen dadurch um ein Vielfaches an.
Die Solvenzkrise – also die Überschuldung privater Haushalte, Unternehmen, Banken und Staaten – wurde so Anfang der 2000er massiv beschleunigt. Aufgrund der Spiralwirkung durch den Preisverfall bei den von Lehman Brothers als Sicherheit für Kredite gehaltenen Immobilienwerten, setzte sich eine unaufhaltsame Dynamik für private Haushalte in Gang. Schrittweise übertrug sich dieses Mikrothema auf die Makroebene und brachte das gesamte Finanzsystem ins Wanken.
So gesehen kristallisierten sich zwei Hauptursachen stetig heraus: Das risikohafte Geschäftsverhältnis zwischen US-Banken und Bürgern sowie die überreizte Schuldenpolitik von Hunderttausenden US-Haushalten.
Welche Entscheidungen haben rückwirkend dafür gesorgt, dass die Finanz- und damit auch die Immobilienkrise 2008 international nicht weiter eskaliert ist?
Peter Rabitz: Damals prägte die Begrifflichkeit von ‚Too big to fail‘ die Berichterstattung: Staaten und Unternehmen, die in finanzielle Schieflage gerieten, wurden durch die jeweiligen Regierungen und Zentralbanken in breit angelegten Rettungsschirmen aufgefangen. Diese rettenden Maßnahmen haben eine Eskalation, also weitere Insolvenzen von vergleichbar großen Geldhäusern wie der Lehman Bank, verhindert. Selbst die größten Banken hierzulande wie die Deutsche Bank oder die Commerzbank waren damals betroffen – das gab es davor und danach nicht.
Gleichzeitig wurden ‚neue‘ Regularien im Finanzsektor aufgestellt, um die Stabilität in der Zukunft zu sichern. Allen voran die sogenannten Stresstests bei Banken und daraus resultierende Umsetzungen der Erhöhung der Eigengeldmengen zur Absicherung von möglichen Kreditausfällen. Hätte es diesen Maßnahmenkatalog und die großen Rettungsschirme wie etwa in Deutschland in Höhe von 500 Milliarden Euro nicht gegeben, wäre die Krise deutlich schlimmer verlaufen – inklusive Insolvenzen, Verlust von zehntausenden Arbeitsplätzen und einem extremen Vertrauensverlust in Politik und Finanzsystem.
Scharfe Kontrollmechanismen und neue Rahmenbedingungen
Was haben Banken und Unternehmen aus dieser kritischen Marktphase bis heute gelernt?
Peter Rabitz: Meiner Meinung nach sind in erster Linie zwei Faktoren zu nennen, die bis heute eine positive Wirkung entfaltet haben. Auf der einen Seite regelte die Kreditvergabe das Verhältnis zwischen Finanzinstitutionen und Käufern grundsätzlich neu. Nicht nur da die Kontrolle verschärft wurde, um sicherzustellen, dass Käufer keine Kredite erhalten, die sie nicht bedienen können. Freizügigen Kreditvergaben wurde so auch ein endgültiger Riegel vorgeschoben.
Daher ist die finanzielle Planung sowohl für Käufer als auch für Banken besser vorhersehbar. Risiken werden transparenter und eine Kettenreaktion messbar unwahrscheinlicher. Auf der anderen Seite wurden Rahmenbedingungen für das Tagesgeschäft neu definiert: Staaten wie Unternehmen erhöhten ihre finanziellen Rücklagen und integrierten die oben genannten Kontrollmechanismen in sämtliche finanzwirtschaftliche Prozesse. Diese Airbags werden uns allen in Zukunft vor neuen Krisen schützen.
Was waren seitdem die wichtigsten Veränderungen für das Immobiliengeschäft?
Peter Rabitz: Entscheidend wurde, dass immer weniger der Wert der Immobilie Bedeutung für die Absicherung des Kredites eine Rolle spielte, sondern der Umstand, ob die Kreditnehmer in der Lage sein würden, die Kreditsumme im Laufe des Arbeitslebens abzubezahlen. Auch wenn dies ebenso hypothetisch wie der mögliche Wertzuwachs einer Immobilie ist, stellte dies jedoch ein größeres Sicherheitsdenken dar.
Für Deutschland und Berlin sorgte die internationale Stabilität des Landes für einen Boom bei Neubauvorhaben und kurbelte die Nachfrage vor Ort an. Berlin galt international als die Trendmetropole für junge, kreative Menschen und bot im internationalen Vergleich sehr interessante, niedrige Lebenshaltungskosten, was zu einem positiven Wanderungsdelta in Berlin führte. Zuzugsraten von etwa 50.000 Menschen im Jahr wurden Normalität.
Die günstigen Lebensumstände, die gerade nach der Finanzkrise 2008 sehr gut ausgebildetes Humankapital vor allem aus den südlichen europäischen Staaten nach Berlin lockte, sowie die Verfügbarkeit von Geldmitteln, vor allem von Venture Capital Firmen, machten Berlin zum internationalen Mekka für Start-Ups.
Immobilienkauf war interessanter als zu Mieten
Und diese Menschen brauchten alle Wohnungen.
Peter Rabitz: Genau. Das neu entstandene Marktsegment spülte sehr viel Geld in die Bundeshauptstadt, denn die vielen Neu-Berliner mussten irgendwo wohnen, was zur steigenden Nachfrage nach Wohnraum führte. Dies wiederum resultierte in einer starken Absorption von Neubauwohnungen, die nach Fertigstellung renditebringend vermietet wurden. Die Tatsache, dass Deutschland weltweit wirtschaftlich wie auch politisch als sehr stabil angesehen wird und wurde, erhöhte auch die Nachfrage von Investoren aus dem Ausland, da es keine nennenswerten Renditen mehr auf Anleihen gab, aber Immobilien mit Renditen von bis zu sechs bis acht Prozent lockten.
Wertsteigerungen bei Immobilien im zweistelligen Prozentbereich pro Jahr versprachen zudem sehr gute Aussichten bei einem Wiederverkauf. Das hatte mitunter zur Folge, dass Wiederverkäufe nach Fertigstellung von Neubauvorhaben lohnenswert waren, trotz geltender Gewinnsteuer. Sehr oft konnte man bereits nach einem Jahr mit sehr gutem Gewinn verkaufen, inklusive der Deckung aller Kaufnebenkosten.
Aufgrund der expansiven Geldpolitik und der damit einhergehenden Vergrößerung finanzieller Liquiditätskapazitäten entstand ein regelrechter Boom im Immobiliensektor. Immobilienkredite um die ein Prozent waren keine Seltenheit, oft auch weit darunter für besonders finanzstarke Kunden. Aufgrund dessen wurde ein Immobilienkauf für viele interessanter als zu Mieten und dadurch stieg die Nachfrage vor allem im Bereich der Neubauimmobilien stetig.
Und: Ist eine erneute Krise mit vergleichbaren Folgen – also Insolvenz internationaler Großunternehmen, massive Staatsverschuldungen, dauerhafte Rezessionen, Währungskrisen – heute wieder denkbar?
Peter Rabitz: Zumindest nicht durch Verfehlungen im Finanzsektor. Schließlich haben die schlimmen Erfahrungen aus der Finanzkrise genügend Warnzeichen hinterlassen: Kontrollmechanismen sollten heute deutlich proaktiver arbeiten und vor Einsetzen erster Ungereimtheiten rechtzeitig warnen. Zudem verbesserten Eigenkapitalerhöhungen bei Banken und Unternehmen die Krisenresilienz auf globaler Ebene.
Eine Wiederholung der Geschehnisse wie bei Lehman Brothers kann somit ausgeschlossen werden. Letzter Garant ist und bleibt in dem Fall leider auch der Steuerzahler, der im Ernstfall zur Kasse gebeten wird und die Zeche für Verfehlungen der Politik oder des Finanzwesens zahlen muss. Globalpolitische Geschehnisse, wie derzeit der Ukraine-Krieg mit allen daraus resultierenden Krisenherden für Europa und die USA oder die immer noch nicht ausgestandene Pandemielage in China, die wie ein Damoklesschwert über allem schwebt, können zu einer erneuten Krisenlage führen, bei der am Ende womöglich wieder nur die Rettung auf staatlicher Ebene bleibt.