Die Welt erlebt derzeit den aggressivsten geldpolitischen Straffungszyklus seit den 1980er Jahren. Im Branchenumfeld dürfte der Immobiliensektor die Auswirkungen mit am stärksten zu spüren bekommen. Vor dem Hintergrund der steigenden Bau- und Finanzierungskosten und der drohenden Stagflation stellt sich die Frage, wo es sich in Europa noch lohnt, in Wohnimmobilien zu investieren.
Das Transaktionsvolumen auf dem europäischen Wohnimmobiliensektor ist nach Erhebungen von RCA bereits zum ersten Halbjahr 2022 bei 31,9 Milliarden Euro im Vergleich zum Vorjahr nicht mehr gewachsen. Im zweiten Quartal sind die Transaktionen in Europa nur noch um ein Prozent auf 13,4 Milliarden Euro gestiegen. Gleichwohl konnte sich der Wohnungssektor in Europa im Vergleich zu anderen Segmenten wie Office (minus 20 Prozent) oder Seniorenwohnungen (minus 18 Prozent) zumindest auf dem Niveau des Vorjahres stabilisieren.
Transaktionsvolumen in Deutschland bricht ein
In Deutschland hingegen ist das Transaktionsvolumen zum Halbjahr 2022 um 21 Prozent auf 7,7 Milliarden Euro im Vergleich zum ersten Halbjahr 2021 eingebrochen. Damit lag es laut CBRE zugleich unter dem Durchschnitt der vergangenen fünf ersten Halbjahre von 9,4 Milliarden Euro. „Zwar sehen wir bei nationalen wie internationalen Investoren ein anhaltend stabiles Interesse an der Assetklasse Wohnen, der Markt steht jedoch momentan vor allem vor zwei Herausforderungen: dem sich verändernden Finanzierungsumfeld und der gestiegenen Inflation“, sagt Konstantin Lüttger, Head of Residential Investment Germany bei CBRE.
Viel Kapital ist hingegen in den ersten sechs Monaten 2022 in nordeuropäische Länder geflossen, wobei Stockholm und Dublin zu den fünf wichtigsten Märkten gehörten. Große Kapitalzuflüsse verzeichnete der schwedische Wohnungssektor, allein in Stockholmer Wohnimmobilien wurden mehr als zwei Milliarden Euro investiert, was einer Verdreifachung des Betrages im Vergleich zum ersten Halbjahr 2021 entspricht. Neben den dominanten inländischen Investoren war unter anderem der deutsche Versicherer Allianz in Schweden aktiv und erwarb eine Beteiligung an einem milliardenschweren Portfolio von Wohnimmobilien. Eine ebenfalls gute Performance verzeichnete Madrid, auch wenn dort kein neuer Rekord aufgestellt wurde.
Hauspreise in der EU stärker gestiegen als in UK
Festzuhalten ist zudem, dass seit dem EU-Referendum im Jahr 2016 die Hauspreise in Europa (EU-27-Länder) im Schnitt um 40 Prozent gestiegen sind. Im Vereinigten Königreich erhöhten sie sich im gleichen Zeitraum um durchschnittlich 30 Prozent, sagt Kate Everett-Allen vom britischen Immobiliendienstleister Knight Frank. Nach ihren Erhebungen hätten zwölf der 27 Märkte seit 2016 einen Preisanstieg von mehr als 50 Prozent verzeichnet, darunter Deutschland, Irland und Portugal.
Trotz der konjunkturellen und geopolitischen Unsicherheiten schnitten insbesondere die mittel- und osteuropäischen Länder im internationalen Kontext immer noch gut ab, trotz der Nähe zur Ukraine. Nach Berechnungen von Knight Frank erhöhten sich die Hauspreise im zweiten Quartal in der Slowakei um 26 Prozent, in der Tschechischen Republik gab es ein Plus von 24 Prozent, in Estland von 21 Prozent, in Ungarn von 20 Prozent, in Lettland von 17 Prozent und in Slowenien von 17 Prozent.
Viele europäische Wohnungsmärkte erscheinen überbewertet
Aufgrund der deutlichen Preisavancen in den letzten Jahren erscheinen viele Märkte als überbewertet. Gemäß dem aktuellen Deloitte Property Index für 2022 ist Deutschland in puncto Wohnimmobilienpreise mittlerweile der viertteuerste Markt Europas. So liege Deutschland inzwischen mit einem durchschnittlichen Angebotspreis von 4.600 Euro pro Quadratmeter für neue Wohnimmobilien auf dem vierten Rang – dicht gefolgt von den Niederlanden und hinter den Spitzenreitern Großbritannien, Österreich und Frankreich.
Auch das Mietniveau sei nochmals stark angestiegen, so dass drei Städte sich mittlerweile in den Top 20 der teuersten finden, bezogen auf das durchschnittliche Mietniveau. Angeführt wird das Ranking für Mietwohnungen von München (18,90 Euro pro Quadratmeter), gefolgt von Frankfurt am Main (15,90 Euro), Berlin (14,30 Euro), sowie Hamburg (13,60 Euro). Europaweit unangefochten an der Spitze liegt nach wie Paris mit 29,10 Euro, dahinter rangieren Oslo (26,6 Euro), London 25,1 (Euro) und Amsterdam (22,5 Euro).
Wo finden Investoren noch Opportunitäten?
Trotz zunehmenden Gegenwindes gehören Wohnimmobilien unverändert zu den begehrtesten Anlagen. Die Widerstandsfähigkeit des Sektors während der Finanzkrise, steigende Mieten und langfristige strukturelle Veränderungen veranlassen die Anleger dazu, einen immer größeren Anteil ihres Portfolios diesem Sektor zuzuweisen. Da in den Metropolen nur noch geringe Renditen zu erzielen sind, rücken regionale Städte mit Renditeaufschlägen gegenüber den großen Märkten zusehends in den Fokus institutioneller Investoren.
Im Allgemeinen weisen regionale Märkte ein höheres Renditeniveau auf als die nationalen Champions, außerdem variiert die Preisgestaltung stark zwischen den Ländern, sagt Simon Wallace, Global Co-Head of Real Estate Research der DWS. Gleichwohl müsse die Anziehungskraft dieser Regionalstädte durch starke Marktfundamentaldaten untermauert sein. Laut der DWS zählen dazu Städte wie Leipzig, Málaga, Bristol oder Toulouse, weil sie ein stärkeres Bevölkerungswachstum offerieren als der Landesdurchschnitt. Daneben wiesen einzelne britischen Märkte wie Bristol und Brighton noch die höchsten Renditeerwartungen auf. Viele wirtschaftlich starke spanische Städte wie Málaga belegen dank ihres unterdurchschnittlichen Angebotes in Verbindung mit einer positiven Nachfrage einen Spitzenplatz im Renditeranking.